Von der Schwierigkeit, den direkt artikulierten Bürgerwillen in einer hessischen Kommune am politischen Geschehen teilhaben zu lassen
von Christian Euler, Referent des Landesvorstands für Verkehrspolitik und Recht, ADFC Hessen
Dieser Artikel erscheint zeitgleich in „Frankfurt aktuell“, dem Magazin des ADFC Frankfurt. Er wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Als aufmerksamer Medienkonsument und insbesondere Leser von „Frankfurt aktuell“ weiß man es nur zu gut, 2018 war das Jahr der Radentscheide in Hessen – genauer der Bürgerbegehren, die zu Bürgerentscheiden nach dem Willen der Initiatoren und unterzeichnenden Einwohner in drei der vier größten kreisfreien Städte Hessens, Frankfurt, Darmstadt und Kassel, hätten führen sollen. Allein daraus wurde nichts. Unisono war aus allen betroffenen Rathäusern zu hören, den Bürgerbegehren mangele es – leider, leider – bereits an materieller Zulässigkeit, weshalb man die Bürger nicht zum eigentlichen Gegenstand der Radentscheide an die Wahlurne rufen dürfe.
Wenn man die Bilder der 550 friedlich demonstrierenden Frankfurter Bürger und Unterstützer der Radentscheid-Initiative am 27.1.19 betrachtet, die am Römerberg vor dem Rathaus für eine Durchführung des Radentscheids streiten, ist die Assoziation zum punischen Krieg keineswegs zwingend. Psychologisch betrachtet, mögen das Magistrat und Stadtparlament im Römer möglicherweise anders sehen. Bürgerentscheide sind gelebte direkte Demokratie. Es geht dabei um politische Teilhabe und Mitbestimmung – durchaus in Konkurrenz zu den Institutionen der repräsentativen Demokratie. Sicherlich sitzen im Römer keine „Römer“, die vor einer feindlichen Streitmacht zittern, sondern es sind ebenso Frankfurter Bürger, freilich in Repräsentanzorgane gewählte. Es geht auch nicht um den Verlust absoluter Herrschaft, denn hier ist nicht Hannibal ante portas. Dennoch ist die Metapher nicht ganz falsch, da zumindest Macht und Kontrolle der städtischen Organe durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, von der hessischen Kommunalverfassung legitimiert, ein Stück weit beschnitten werden.
Voraussetzungen für einen Bürgerentscheid nach § 8b HGO
Wieso werden denn jetzt eigentlich keine Bürgerentscheide durchgeführt? Um das rechtlich nachzuvollziehen, muss man kurz auf das Procedere in § 8b Hessische Gemeindeordnung (HGO) eingehen, das Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene in Hessen regelt. In der HGO ist etwa festgehalten, dass in einem ersten Verfahrensschritt ein sogenanntes Bürgerbegehren durchzuführen ist, bevor in einem zweiten Verfahrensschritt ein Bürgerentscheid überhaupt stattfinden kann. Allerhand Voraussetzungen sind dabei zu beachten. So muss es sich bei dem Gegenstand des Begehrens um eine wichtige Angelegenheit der Gemeinde handeln, die zudem in die Entschließungskompetenz der Gemeindevertretung, hier also des Stadtparlaments, fallen muss. Bei Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern muss das Bürgerbegehren von einem Quorum in Höhe von mehr als 3 Prozent der wahlberechtigten Einwohner unterzeichnet werden. Die zu entscheidenden Fragen – bei den Radentscheiden handelte es sich um ganze Maßnahmenkataloge – müssen mit Ja/Nein beantwortet werden können, eine Begründung und einen Kostendeckungsvorschlag enthalten sowie die Angabe von bis zu drei Vertrauenspersonen. Schließlich ist das Bürgerbegehren zur Durchführung eines Bürgerentscheides schriftlich beim Gemeindevorstand, in einer Stadt also dem Magistrat, einzureichen.
Das Unterschriftenquorum zu erreichen, ist bereits eine ernstzunehmende formelle Zulässigkeitshürde. Diese meisterten die Radentscheide allerdings mit Bravour. So konnten die Initiatoren mit mehr als 40.000, 11.000 bzw. 22.000 gesammelter Unterschriften das gesetzlich geforderte Quorum von 15.056, 3.347, bzw. 4.501 Unterschriften in Frankfurt, Darmstadt und Kassel jeweils locker um das 3- bis sogar 5-fache (Kassel!) überbieten. Das tolle Ergebnis ist zugleich Ausdruck einfallsreicher und gut gemachter Kampagnen als auch ein sicheres Anzeichen dafür, das richtige Thema zur rechten Zeit und damit einen Nerv bei den Einwohnern der hessischen Großstädte getroffen zu haben. Sicheres Radfahren auf gut ausgebauter Radinfrastruktur für alle zwischen 8 und 88 Jahren in einer lebenswerter gestalteten Stadt, die nicht mehr einseitig den motorisierten Individualverkehr bevorzugt, fanden bei den städtischen Einwohnern in Zeiten, in denen von Verkehrswende zwar in der Politik viel geredet, aber wenig getan wird, breite Akzeptanz.
Forderungen der Radentscheide in Frankfurt, Darmstadt und Kassel
Dennoch sollte es nichts werden mit den Bürgerentscheiden und den 7 (Frankfurt, Darmstadt) bzw. 8 (Kassel) geforderten sehr konkreten Einzelmaßnahmen, darunter je nach Größe der Stadt und Ambition der Initiatoren der Radentscheide jedes Jahr
- 3, 5 bzw. 15 Kilometer baulich getrennte Radwege an Hauptstraßen mit 50 km/h
- 5 Kilometer attraktive Nebenstraßen für den Radverkehr bzw. Fahrradstraßen
- Umbau von 3 bzw. 10 für den Radverkehr optimierte und sichere Ampelkreuzungen
- 50 Bordsteinabsenkungen an vorhandenen Rad- und Fußwegen
- 8 bzw. 10 Gehweg-Aufpflasterungen an Kreuzungen, baulich angelegte Querungshilfen
- 1000 bzw. 2000 sichere und möglichst überdachte Fahrradabstellmöglichkeiten
- Bau von Radverkehrsanlagen nach Stand der Technik (ERA) mit 2 bzw. 2,3 m Breite.
Zulässigkeitsfrage hinreichender Kostendeckungsvorschlag und akkurate Kostenschätzung
In der Magistratsvorlage Nr. 2018/0179 vom 19.6.18 der Stadt Darmstadt für die Stadtverordnetenversammlung wird zwar dem vom Radentscheid Darmstadt geforderten Maßnahmenkatalog, also den konkret genannten Zielen, die materielle Zulässigkeit als wichtige Angelegenheit der Gemeinde, die in die Entschließungskompetenz der Stadtverordnetenversammlung fällt, bescheinigt, aber nicht dem unterbreiteten Kostendeckungsvorschlag einschließlich der Kostenschätzung. Die Kostenschätzung wäre mit 2,6 Millionen Euro deutlich zu niedrig, weil mindestens 5 bis 6 Millionen Euro zu veranschlagen wären. Überdies würden die Kostendeckungsvorschläge, wie Umschichtung im Haushalt von Erlösen aus Parkraumbewirtschaftung, Bußgeldern und Stellplatzbörse und innerhalb des Haushaltstitels Verkehrsflächen und -anlagen, ÖPNV sowie eine Bewerbung um Förderprogramme der EU, Bund und Land Hessen nicht zur Kostendeckung ausreichen bzw. es sei schon die Förderfähigkeit und -höhe in den Förderprogrammen ungewiss.
Immerhin muss man dem Darmstädter Magistrat zugestehen, dass er bereits eine Woche, nachdem die letzten Unterschriften des Bürgerbegehrens dem Magistrat überreicht wurden, eine fertig ausgearbeitete und begründete Beschlussvorlage – mitsamt eigenem, wiewohl abgespecktem Gegenvorschlag zur Verbesserung des Radverkehrs – vorlegte. Das hat man in Frankfurt nicht ansatzweise geschafft, obwohl der Radentscheid Frankfurt fast zur gleichen Zeit die letzten Unterschriften übergeben hatte. Dass dort nach mehr als einem halben Jahr immer noch keine Beschlussvorlage des Magistrats an die Stadtverordnetenversammlung adressiert wurde, wirft ein negatives Schlaglicht auf die Arbeit des Frankfurter Magistrats. Aus der Presse war zwischenzeitlich jedoch zu erfahren, dass die sehr ähnlichen Kostendeckungsvorschläge des Frankfurter Radentscheids vom Frankfurter Magistrat ebenfalls als materiell unzulässig bewertet werden. Gleiches gelte für die Kostenschätzungen, diese seien ebenso zu niedrig.
In Kassel hatten die Organisatoren des Radentscheids, die ihre Unterschriftensammlung erst am 12.11.18 und damit 5 Monate später als die Radentscheide in Darmstadt und Frankfurt einreichten, nach Kenntnis des negativen Beschlusses des Darmstädter Stadtparlaments reagiert und anstatt Einsparungen und Umschichtungen im Haushalt und der Inanspruchnahme von Förderprogrammen eine moderate Erhöhung der Gewerbesteuer zur Finanzierung des Maßnahmenkatalogs vorgeschlagen. Als rechtssichere Alternative wäre auch eine Erhöhung der Grundsteuer zur Gegenfinanzierung infrage gekommen. Steuererhöhungen sind nicht populär, aber es handelt sich beim Kostendeckungsvorschlag sowieso lediglich um einen unverbindlichen Vorschlag, dem die Gemeindevertretung keineswegs folgen muss, der ihr gegenüber aber dennoch zwingend gemäß § 8b Abs. 3, S. 2, 1. HS HGO zu erfolgen hat. Diese Klippe kann also gerade noch mit einem unkreativen, aber rechtssicheren und damit nach dem Gesetzeswortlaut „durchführbaren Kostendeckungsvorschlag“ umschifft werden. Dennoch hat auch der Kasseler Magistrat nach zweieinhalb Monaten im Ergebnis das Kasseler Bürgerbegehren für einen Radentscheid als materiell unzulässig bewertet, weil auch hier die Kostenschätzungen mit insgesamt prognostizierten 5,96 Millionen Euro für alle Maßnahmen des Forderungskatalogs zu niedrig ausgefallen seien.
Der Stadtverordnetenversammlung Darmstadts wäre es in der entscheidenden Sitzung am 30.8.18 möglich gewesen, nach § 8 Abs. 1, S. 2 HGO per Beschluss einen heilenden Vertreterentscheid herbeizuführen, in welchem sie den vom Radentscheid Darmstadt entworfenen und für sich betrachtet zulässigen Maßnahmenkatalog ohne den als unzulässig bewerteten Kostendeckungsvorschlag den Darmstädter Bürgern zur Abstimmung vorgelegt haben würde. Die formale Anforderung „hinreichender Kostendeckungsvorschlag“ gilt nämlich nicht für das Vertreterbegehren. Die „normative Kraft des Faktischen“ hat einen „von oben initiierten“ Bürgerentscheid indes verhindert. Denn zur Herbeiführung des Bürgerwillens auf diese Weise hätte es einer Mehrheit von 2/3 (!) der Stadtparlamentarier benötigt. Diese war offenkundig nicht gegeben. Auch die Stadtparlamente in Frankfurt und Kassel machen keine Anstalten, die Möglichkeit eines heilenden Vertreterentscheids zu nutzen. Ironisch darf man den Landesgesetzgeber fragen, ob er ernsthaft gedacht hat, dass fakultative und freiwillige Selbstentmachtung ein geeignetes Konzept zur Verwirklichung politischer Teilhabe sein kann.
Die neue Taktik in den Rathäusern, sich grundsätzlich zu den Zielen der Radentscheide zu bekennen und auch mehr Geldmittel und Personalausstattung bereitzustellen, sich jedoch nicht auf konkrete Umsetzungszeiträume für einzelne Maßnahmen zu verpflichten, wird bei den Organisatoren der Radentscheide nachvollziehbar verhalten aufgenommen. Ob die Bürgerbegehren zu den einzelnen Radentscheiden – alle – keine hinreichenden Kostendeckungsvorschläge auf Grundlage zumindest nachvollziehbarer Kostenermittlungen enthalten, darüber kann man sicherlich geteilter Meinung sein. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass sich unter den Initiatoren der Radentscheide professionelle Verkehrsplaner befinden, die sich von Berufs wegen mit Kostenkalkulationen befassen. Die Radentscheid-Initiativen wurden zudem von Anfang an professionell juristisch beraten. Im Fall von Darmstadt beschäftigt dies bereits ein hessisches Verwaltungsgericht. Die vom Radentscheid Darmstadt angestrengte Klage kann, so es zu einem Urteil kommt, eventuell ein wenig mehr Klarheit zu § 8b Abs. 3, S. 2, 1. HS HGO bringen. Das beschriebene Zulässigkeitsproblem, insbesondere mit Kostendeckungsvorschlag und Kostenschätzung, würde aber weiter bestehen und zukünftigen Organisatoren von Bürgerentscheiden Kopfzerbrechen bereiten.
Prüfung und Beschlussfassung zur Zulässigkeit nach Durchführung des Bürgerbegehrens
Dass eine Rechtmäßigkeitsprüfung eines Bürgerbegehrens immer erst nach Durchführung desselben stattfindet, birgt für die Organisatoren des Bürgerbegehrens offensichtlich den großen Nachteil, dass die ganze Kampagnenarbeit, nicht zuletzt die Unterschriftensammlung unter erheblichem Zeitaufwand, vergebens gewesen sein könnte. Das Risiko des vorzeitigen Scheiterns ist in § 8b HGO bedauerlicher Weise gesetzesimmanent angelegt, weil danach eine Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Organe einer Gemeinde nachgelagert, insbesondere nach Unterschriftensammlung, erfolgt. Schließlich entscheidet die Gemeindevertretung rechtsverbindlich gemäß § 8b Abs. 4, S. 2 HGO über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens erst am Ende des ersten Verfahrensschritts.
§ 8b Abs. 3, S. 5 HGO, der einen Rechtsanspruch auf „Unterrichtung über die beim Bürgerbegehren einzuhaltenden gesetzlichen Bestimmungen vor Sammlung der Unterschriften durch den Gemeindevorstand“ gewährt, hilft im Ergebnis Bürgerentscheid-Initiativen nicht weiter, da damit jedenfalls eine ausführliche rechtliche und im Nachhinein rechtssichere Aufklärung und Beratung der Organisatoren eines Bürgerbegehrens, die allein weiterhelfen könnte, nicht verlangt werden kann. Auf eine rechtsfehlerfreie und rechtssichere Kostenschätzung sowie einen hinreichenden Kostendeckungsvorschlag wird man den Magistrat nach derzeitigem Gesetzesstand vor Durchführung eines Bürgerbegehrens nicht verpflichten können; gleiches gilt für die übrigen genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen.
Das ungeschriebene Rechtsinstitut der „Selbstbindung der Verwaltung“, welches dieser die nachträgliche Berufung auf das Gegenteil verbietet, könnte hier zwar Anwendung finden, es stößt aber bei komplexen Sachverhalten und Rechtsfragen, wie sie etwa in den Maßnahmekatalogen der Radentscheide enthalten sind, an Grenzen. Zudem würde es nur den Magistrat selbst rechtlich binden können, nicht aber ein Stadtparlament, welches allerdings nach § 8b Abs. 4, S. 2 HGO die alleinige Entscheidungskompetenz über die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens besitzt.
Überdies wird es ein Magistrat scheuen, sich politisch im Voraus festzulegen. Nach dem Opportunitätsprinzip werden Vorfestlegungen, insbesondere bei Politika, regelmäßig vermieden. Der Schlingerkurs und die Verschleppungstaktik des Frankfurter Magistrats in Sachen Bürgerbegehren zum Radentscheid geben hier leider ein gutes, wenngleich abschreckendes Beispiel – und dies sogar noch nach Durchführung des Bürgerbegehrens.
Rechtlich zulässig wäre zwar, dass eine Gemeindevertretung vor Unterschriftensammlung bindend eine Art „Vorratsbeschluss“ trifft, welcher die formelle und materielle Rechtmäßigkeit des Bürgerbegehrens – selbstredend mit Ausnahme des Prüfungspunktes Quorum – bestätigt. In der Praxis dürfte eine solche freiwillige Selbstbindung einer Gemeindevertretung noch unwahrscheinlicher sein als jene des Gemeindevorstands. Dies möglicherweise schon allein deshalb, weil politische Mehrheiten dafür fehlen. Das wird auch der Normalfall sein, sonst bräuchte es ja auch keine Bürgerentscheid-Initiativen. Müßig zu erwähnen, dass es weder Vorratsbeschlüsse noch verbindliche Zulässigkeitsprüfungen vorab seit Einführung des § 8b HGO, soweit bekannt, gegeben hat.
Verbindliche Vorprüfung der Zulässigkeit vor Durchführung eines Bürgerbegehrens
Im Verwaltungsrecht gibt es regelmäßig einen großen Beurteilungsspielraum auf „Tatbestandsseite“, bedingt durch eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe. Dies birgt naturgemäß große Risiken und Rechtsunsicherheit für den Bürger als Rechtsanwender.
Hier gibt es im Baurecht, in Hessen in § 66 Hessische Bauordnung (HBO), etwa das Rechtsinstitut der „Bauvoranfrage“. Damit kann vorab die Rechtmäßigkeit eines geplanten Bauvorhabens bauplanungs- und bauordnungsrechtlich in ausgewählten Punkten überprüft werden. Rechtspolitische Gründe für die Etablierung von Bauvoranfragen sind Verwaltungsvereinfachung, Verfahrensbeschleunigung, Rechts- und Investitionssicherheit für den Bürger.
Eine entsprechende Regelung – quasi eine Voranfrage für Bürgerbegehren – könnte auch hier Abhilfe schaffen. Die Interessenlage für die Organisatoren von initiativen Bürgerentscheiden ähnelt derjenigen von Bauherren. Zeit, Aufwand und Geld sind schließlich endlich. Eine Problemlösung kann also darin bestehen, die Möglichkeit einer verbindlichen Vorprüfung der Zulässigkeit vor Durchführung eines Bürgerbegehrens gesetzlich neu zu regeln.
Ein neuer Absatz 3a in § 8b HGO könnte etwa lauten:
„Vor Sammlung der Unterschriften kann auf Antrag (Voranfrage zum Bürgerbegehren) zu einzelnen Fragen des Bürgerentscheids, welche die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens betreffen und die von Gemeindevorstand und Gemeindevertretung zu prüfen sind, ein schriftlicher Bescheid (Vorbescheid zum Bürgerbegehren) durch den Gemeindevorstand im Einvernehmen mit der Gemeindevertretung erteilt werden. Der Vorbescheid zum Bürgerbegehren ist spätestens 3 Monate nach Stellung der Voranfrage zu erteilen. Der Vorbescheid zum Bürgerbegehren gilt zwei Jahre. Der Vorbescheid zum Bürgerbegehren kann für diesen Zeitraum nicht zurückgenommen oder widerrufen werden, er ist für den Bürgerentscheid bindend.“
Wichtig sind verbindliche Antwortzeiträume, um der realen Gefahr eines Aussitzens bzw. Verschleppens – siehe Frankfurt – zu begegnen. Dass 3 Monate ausreichend sind, haben die Magistrate in Darmstadt und Kassel gezeigt. Eine Sanktion ist bei Missachtung im Entwurf nicht enthalten. Es bleibt die Untätigkeitsklage nach §§ 75, 161 Abs. 3 VwGO. Will man die Zeitvorgabe „scharf“ stellen, könnte eine Sanktion dahingehend lauten, dass ein Bürgerbegehren nachträglich nicht mehr von der Gemeindevertretung nach § 8b Abs. 4, S. 2 HGO im Hinblick auf die konkrete Voranfrage als unzulässig eingestuft werden darf, soweit eine Voranfrage nicht fristgemäß beschieden wird.
Rechtsanspruch auf Beratung zur Rechtskonformität eines Bürgerbegehrens
Mit dem Ziel Bürgerfreundlichkeit lässt sich zusätzlich auch ein Rechtsanspruch auf Beratung zur Rechtskonformität eines Bürgerbegehrens begründen. Ein neuer Abs. 3, S. 6 in § 8b HGO könnte demnach lauten:
„Die Vertrauenspersonen eines Bürgerbegehrens können gegenüber dem Gemeindevorstand Rechtshilfe in Form von Rechtsberatung hinsichtlich der im Bürgerentscheid zur Abstimmung gestellten Maßnahme(n) vor Sammlung der Unterschriften verlangen, insbesondere im Hinblick auf einen durchführbaren Kostendeckungsvorschlag.“
Der Bonusvorschlag hat einen Beratungsanspruch zur Rechtskonformität des Bürgerbegehrens vor dessen Durchführung zum Gegenstand. Wenn etwa die Organisatoren des Bürgerentscheids selbst nicht die erforderlichen haushaltsrechtlichen Kenntnisse besitzen, eine adäquate Kostenschätzung anzustellen, wie es etwa die Rathäuser in Frankfurt, Darmstadt und Kassel den Radentscheid-Initiativen beschieden haben, werden diese dahingehend richtig und umfassend beraten, solche Vorschläge unterbreiten zu können.
Ein solcher Anspruch auf Rechtshilfe könnte den seit Ende 2018 bürgerfreundlicher gestalteten Volksentscheid in Art. 124 der Hessischen Landesverfassung, in welchem das Verfassungsgebot „Direkte Demokratie“ zum Ausdruck kommt, auf einfachgesetzlicher Ebene ergänzen. Ein Rechtshilfeanspruch ist ein geradezu gelebtes Verfassungsgebot.
Mit dem Rechtsinstitut einer verbindlichen Vorprüfung der Zulässigkeit vor Durchführung eines Bürgerbegehrens würde ein formalisiertes, zeitlich determiniertes und im Ergebnis rechtssicheres Verfahren etabliert, welches auch den „Zwiespalt“ abmildert, dass Gemeindevorstand und Gemeindevertretung eine Doppelfunktion ausüben. Insbesondere die Gemeindevertretung, die nacheinander „Richter“ – bei der Entscheidung über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens – und „Partei“ – bei der Entscheidung über die Abhilfe der im Bürgerbegehren zum Ausdruck gekommenen Forderung(en) – ist, wird durch die Möglichkeit der Vorverlagerung der Zulässigkeitsentscheidung entlastet.
Gestaltungswille des hessischen Landesgesetzgebers gefordert
Die Tatsache, dass seit Gesetzeseinführung in Hessen im Jahre 1993 initiative Bürgerentscheide, also diejenigen, welche die Gemeinde zum Handeln auffordern, im Unterschied zu den kassatorischen Bürgerentscheiden, welche den „status quo“ wahren möchten, wie etwa der „Rennbahn“-Bürgerentscheid in Frankfurt, ein Schattendasein führen, liegt entscheidend darin begründet, dass sie regelmäßig nicht über den ersten Verfahrensschritt des Bürgerbegehrens mangels Zulässigkeit hinauskommen. Kassatorische Bürgerentscheide müssen keinen hinreichenden Kostendeckungsvorschlag enthalten. Was bereits „da“ ist, kann nun mal nicht „mehr“ kosten.
Dieses Ungleichgewicht gilt es zu beheben, zumal es die initiativen Bürgerentscheide sind, die Fortschritt und Dynamik bieten. Im politischen Kabarett käme man womöglich auf die Pointe, keinen Handlungsbedarf zu sehen, weil doch seit 26 Jahren initiative Bürgerentscheide zuverlässig durch die kaum zu erfüllenden Voraussetzungen in § 8b HGO verhindert werden, und damit das Gesetz gerade „funktioniert“. So schwarzhumorig und ironisch böse wird man außerhalb des Kabarettbetriebs nicht sein wollen. Die Bewertung der Sachlage könnte sich aber ändern, falls die dysfunktionale und zuverlässig wirkungslose Regelung des initiativen Bürgerentscheids in § 8b HGO nicht novelliert würde. Handlungsbedarf des Landesgesetzgebers in Hessen ist jedenfalls akut erkennbar.
Christian Euler,
Referent des Landesvorstands für
Verkehrspolitik und Recht, ADFC Hessen